Der Ausgangspunkt
Bäume sind nicht gerade!
Trotzdem der Titel, eben weil gerade einiges in unsererGesellschaft so ist, wie es nicht [ gerade ] ist. Bäume sind krumm, bewegt gewachsen, kurz, lang, hoch, dick, dünn, schräg, angenagt, stark, dürr, knorrig, alt, früchtetragend oder auch nicht, jung, verzweigt, voller Würde, rauh, grün, bunt, kahl, wild, gepropft, mit Misteln, Flechten und Moos bewachsen, geschnitten, morsch, warm, glatt, blühend, schattenspendend, ausladend, gezüchtet, Vögel nisten, Käfer fressen, Rehe nagen, Menschen schnitzen, Bäume geben Holz, Halt und vor allem sind sie, wie wir alle: verschieden.

Sie wachsen überall, hier, dort und anderswo. Manche im Garten, aber vor allem darüber hinaus.
Mehr Platz für das Wichtige im Kopf.
Wir gehen gemeinsam einen langen Weg. Steil, so richtig steil ist er zu Beginn und wie angerichtet geht es über Treppen hinauf. 1600 Höhenmeter bergauf liegen vor uns, wir wollen hinauf zu einer Alpe, um dort zu übernachten; an einem Ort ohne Hütten- oder andere zu erwartende Hauswarte.
Die vor dem Zerfall bewahrte Alm wurde vor kurzem zu einem Refugium, einem kleinen Paradies wieder aufgebaut. Sie liegt oberhalb der Baumgrenze, von dort aus wird es gut möglich sein, dieses steile Tal zu überblicken.

Wir möchten darüber hinaus schauen.
Es wird Gewitter geben und starken Regen. Wir wissen nicht, was uns heute abend erwartet. Werden wir dort alleine sein? Werden wir überhaupt ankommen oder vorher umdrehen? Überwiegt die Sorge vor dem Gewitter? Unterwegs kommt es, wie vorher gesagt, die Sonne verschwindet, es ist unangenehm schwül, alles quillt und dampft sich voll, es fängt an zu grummeln und zu grollen, wird stärker, es donnert und blitzt von allen Seiten, wir werden nass, frieren, suchen und finden Unterschlupf, machen zusammen die nötige Pause.
Irgendwann hört es auf mit dem Grollen, es ist wieder möglich zu Gehen. Die Granitplatten sind jetzt glatt und rutschig, aber es ist ein unfassbar schöner Weg. So steil, so sehr steil wie der Anstieg zu Beginn war, folgt jetzt ein angenehm dahin mäandernder Abschnitt.
Wie ein verwunschener Wurm schlängelt sich der Weg oberhalb einem steil eingeschnittenen Flußtal entlang. Nach jeder Kurve denke ich, jetzt geht es nicht mehr weiter, und trotzdem lässt es sich ohne große Herausforderung einfach weitergehen.
Immer wieder machen wir Halt und trinken das frische Wasser aus dem Fluß, dunkelgrüner Wald spiegelt sich im smaragdgrünen Wasser. Die dicken Kastanienbäume werden weniger, an deren Stelle treten Steineichen und Buchen. Bald sollte uns eine Lichtung erwarten, da ist sie: eine summende, in der Wärme surrende Wiese, Eidechsen huschen über die schon wieder trockenen Steinplatten. Wir stehen vor niedrigen, sich trotzig duckenden Steinhäusern.

Jetzt kann es nicht mehr weit sein, der Talkessel macht sich bereit, sich zu öffnen. Heidelbeerbüsche säumen den Weg, wir bleiben ständig stehen und naschen, bewegen uns zwischen Birken und Lärchen, hüpfen zwischen den großen und kleinen Steinen auf dem Weg dahin, immer weiter.
Während dem Gehen bin ich mit meinen Kindern im Gespräch, fast ohne Pause. Ich höre zu. Das Reden und das Zuhören wird irgendwie zur Architektur. Manchmal entwischen mir Teile, weil ich selbst abschweife, gebe ich zu. Da holt mich ein Satz wieder zurück: „Wandern ist wie Nachdenken, ohne sich dabei konzentrieren zu müssen. So ist mehr Platz für das Wichtige im Kopf.“
Das darüber hinaus schauen ist wichtig. Dafür braucht man offensichtlich nicht erwachsen zu sein, um dies zu bemerken.
Niemand weiß, wieviel Zeit für das, was wir wollen, letztlich bleibt. Wir sind heraus aus dem steilen, alles verschlingenden engen und dichten Grund mit den 1000 Meter hohen Hängen. Große Blöcke liegen wie Zuckerwürfel zwischen den Bäumen. Inzwischen ist das Wetter auch wieder so, dass sich keiner mehr von uns fürchtet. Noch immer ist es heiß, und so langsam möchte auch ich ankommen.
Aber schon jetzt schauen wir über das Tal hinaus!